BARFUSS DURCH DIE ERINNERUNG – GEORGISCHE DICHTUNG VON BELA CHEKURISHVILI
Jonas Benedikt, 7. September 2018
Bela Chekurshvili hat keine Scheu vor der Erinnerung – in ihrem Gedichtband „Barfuß“ gräbt sie sich durch die Erinnerungen an Liebe, Familie und Migration. Unverfroren stellt sie dem Erinnerten das Vergessene zur Seite – oder das von der Erinnerung Manipulierte. Der Gedichtband ist, passend zum Jahr 2018, in dem Georgien als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse vertreten ist, im Wunderhorn Verlag erschienen. Die rhythmische Übersetzung hat der Berliner Dichter Norbert Hummelt mit Hilfe von Lika Kevlishvili besorgt.
„Reg dich nicht auf, denn so passiert es halt,
wenn du dich rumtreibst: deine abgelebten
Gefühle und Gedanken werden in dir kalt“
Der alte Garten
Zwei Linien ziehen sich wie mächtige Ströme durch das Buch: Erinnerung und Liebe. Erinnerung an Liebe, Liebe durch Erinnerung, vergessene Liebe, geliebte Erinnerung – gründlich durchleuchtet Chekurshvili die gegenseitigen Bedingtheiten und Abhängigkeiten. Der Erinnerung ist dabei das Vergessen gegenübergestellt. Gleich viermal setzt die Erinnerung im Gedicht „Fotoalbum“ an, um zuletzt vor dem Vergessen zu kapitulieren:
Ich erinnere mich nicht,
weshalb in dieser Nacht der Asphalt so nass war in der Stadt.
…
Ich habe vergessen,
warum wir von zu Hause wegliefen…
…
Ich weiß nicht,
warum wir diese kurzen T-Shirts trugen...
…
Ich weiß nicht,
warum sie uns Flüchtlinge nannten im eigenen Land…
…
Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern
und es könnten wohl besser sein,
das Fotoalbum für immer zu schließen und es zum Trödelmarkt zu bringen,
jemand steckt es dort womöglich gnädig ein.
Fotoalbum
Neben dem individuellen Erinnern treten Formen des gemeinsamen Erinnerns. Den Platz des alt und dement gewordenen Vaters nehmen die Kinder ein, die sich gemeinsam fragen, was sie über ihren Vatern wissen.
Von OsTraum auf Herz und Nieren getestet: Der Gedichtband war von Deutschland über Russland bis Tadschikistan ein robuster Begleiter.
Das räumlich getrennte Liebespaar lebt von den Erinnerungen an Zeiten des Zusammenseins. Ohne Berührungsängste schöpft Chekurshvili unverbrauchte poetische Bilder aus der Gegenständlichkeit des 21. Jahrhunderts: Messenger-Dienste und Cola-Deckel fungieren als Anknüpfungspunkte für die Auseinandersetzung mit Fernbeziehungen und Jugendträumen.
„In Social Media sind wir einander nah.
Ausgestreut in virtuelle Welten
sind wir online, permanent.
Selbst wenn wir uns kein Wort mehr sagen, Hauptsache, die Leuchte brennt“.
Verstreut
Aus dem Kontakt mit der Gegenwart ziehen die Gedichte Chekurshvilis ihre Aktualität und Kraft. In „Reportage von der Grenzkontrolle“ thematisiert sie die Öffnung des Schengen-Raumes für georgische Staatsangehörige, im „Skype-Dialog“ zeigt sie, wie Sehnsucht trotz Nähe im virtuellen Raum bestehen bleibt. Mit dem Band „Barfuß“ hat Chekurshvili das alte Ritual des Dichtens gelungen aktualisiert:
„das ist ja schließlich auch ein altes Ritual,
Silbe mit Silbe zu verschwistern,
mit Wörtern zu spielen, bis sie knistern“.
Perfotmance
https://ostraum.com/2018/09/07/barfuss-durch-die-erinnerung-georgische-dichtung-von-bela-chekurishvili/