Mein kleines Insektarium
Ameisen
 
Die Ameise war immer unser Vorbild.
Unser Vater war rhetorisch gebildet,
er arbeitete mit Allegorie und Hyperbel.
Es fiel ihm nicht schwer,
die passenden Metaphern zu finden,
wenn es um Kindererziehung ging.
Wollte er uns zum Lernen ermuntern,
diente die Ameise mit Fleiß und Stärke.
 
Niemand konnte sich mit ihnen messen,
diesen winzigen, krabbelnden Kerlchen,
weder ein Löwe noch ein Wal.
War doch die Ameise allein in der Lage,
zehnmal ihr eigenes Körpergewicht
als Last auf dem Rücken zu tragen!
Gar nicht zu reden von ihren Staaten, 
von den Armeen der Ameisenstaaten,
und ihrer fabelhaften Disziplin!
 
Einmal stürmte ein Heer von ihnen unseren Balkon im Tifliser Hof.
Es war im Frühling. Sie kamen über die Äste heran, folgten der Duftspur der Akazien,
erkletterten das Balkongeländer, die Wände, dann die Fensterbretter.
Die Belagerung hielt bis zum Herbst.
Sie laugten uns aus mit Hartnäckigkeit
Und wir mussten uns geschlagen geben.
Was wir auch ins Feld zu führen suchten, Natron, Kreide oder Vanille, fruchtete nicht.
 
Das war meinen Geschwistern und mir eine Lehre. Hartnäckig sind wir seither auch.
Wir tragen schwere Last auf unsern Rücken,
doch wissen wir nicht, wer den Krieg gewinnt,
noch auf welcher Seite wird sind, 
und zu welcher Armee wir gehören.
 
 
Aus dem Georgischen von Norbert Hummelt

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