Bela Chekurishvili: Wir, die Apfelbäume

Wir, die Apfelbäume – wozu blühen wir überhaupt? Wie kommt Sisyphos zu seinem Stein, wie hat Salome das Tanzen gelernt? Und wenn einer sein Kreuz trägt und klagt – was sagt das Kreuz dazu?

Bela Chekurishvilis Gedichte gehen vielen Fragen nach; die Fragwürdigkeit des Lebens überhaupt, seiner Einrichtungen und Übereinkünfte, ist ein zentrales Motiv ihres Schreibens. Kennzeichnend für ihre Haltung ist das dreiteilige, sehr bewegende Gedicht »An den Vater«. In der imaginierten Zwiesprache appelliert der Vater immer wieder eindringlich, die Tochter möge doch das »Vatergeheimnis« hüten, aber diese entzieht sich seinen Besitzansprüchen, muss ihre Freiheit behaupten und fortgehen. Sie kündigt den Gehorsam auf, nicht jedoch die Liebe – und ähnlich verhält es sich mit der Haltung der Dichterin gegenüber ihrem Land und den Menschen, die die derzeit in Deutschland lebende Autorin dort zurückgelassen hat. Die Entfernung führt dazu, die stark patriarchalisch geprägten Strukturen der georgischen Gesellschaft schärfer zu sehen, inklusive ihres Gewaltpotentials, das auch in die Liebesgedichte dieses Bandes hineinspielt. Auf die Gewalt der Verhältnisse muss die literarische Sprache eine Antwort finden, und die kann nur in einer leidenschaftlichen Abwendung bestehen, ohne dass darüber jedoch das Gespräch abgebrochen wird. Fast durchgehend ist das Sprechen in diesen Gedichten dialogisch, ob nun die Freundinnen, ein Familienmitglied, ein Geliebter oder die Elemente angesprochen werden, die Erde, der Wind, denen die Dichterin auch immer wieder ihre Stimme leiht, weil sie sich ihnen verbunden fühlt (wenn auch die Männer manchmal nicht den Mund aufkriegen, der Wind verliert seine Stimme nie). Zu diesem dialogischen Weltbezug passt, dass alle Mittel der Verständigung, die ältesten wie die modernsten, auch im Namen der Poesie aufgerufen werden können, natürlich auch die E-Mail. Die Dichterin, die lange auch als Kulturjournalistin arbeitete, gehört zur »Wende«-Generation in der georgischen Literatur – aufgewachsen unter dem Sowjetstern und dann hineingestellt in die plötzliche Freiheit eines Landes, das ganz neu war und zugleich ganz alt. Alt wie die Apfelbäume und der Wein. Die legendäre georgische Tafel, an der ein Zeremonienmeister, Tamada genannt, Trinksprüche auf die Heimat und die Toten anstimmt, gehört zur Wirklichkeit dieses Landes ebenso wie der Umstand, dass fast alle Georgier heutzutage bei Facebook sind. Aus dieser Spannung beziehen auch die Gedichte von Bela Chekurishvili ihren Reiz und ihre Eigenart. Sie sind getragen von einem Aufbegehren gegen die reiche Formtradition der georgischen Dichtung und doch zugleich von ihr gespeist. Aber ob sie nun zum prosanahen, skeptischen Blocksatz tendieren oder im Urvertrauen auf den Reim zu tanzen beginnen – immer sind diese Gedichte elektrisch geladen. 

Norbert Hummelt, Nachwort aus dem "Wir, die Apfelbäume". Verlag das Wunderhorn, 2016.


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