Poetry

Offenes Feld: open air 178

  Offenes Feld: open air 178

Mistel

Wenn ich auf der Schaukel schwang, die mein Großvater im Garten

am Maulbeerbaum befestigt hatte

und zwischen den Ästen zur Sonne aufsah,

dann dachte ich, der Baum sei meine Mutter,

die vom Schlaf erwacht ist, die mich auf den Arm nimmt

und singend hin und her wiegt in der Nacht.

Es war der Baum, der mich schützte vor dem Sonnenglühen

und der mich mit den schwarzen Augen

lachend ansah wie die Mutter, maulbeersüß.

 

Heute schwingt mein Sohn auf dieser Schaukel

und denkt vielleicht, der Baum, dem er sein Leben anvertraut,

sei seine Mutter.

Er baut darauf, dass ich ihn schützen kann mit diesem starken Stamm, 

der Rinde und den Ästen,

und wenn es nötig ist, mich gern verwandeln werde,

in Ofenholz, in einen Tragbalken, in eine Kinderwiege.

 

Er glaubt an diesen Baum und zweifelt nicht,

dass ich ein Baum bin.

Ich bin jedoch die Mistel,

die hoch im Wipfel einen Ast umklammert,

die wurzellos ist und blassgrün von Farbe,

die sich von anderen ernährt, von deren Saft und Licht

und nur ganz selten wagt sie einen Blick zur Erde

und jedesmal nimmt sie an Blässe zu,

wenn sich die Äste regen, weil die Schaukel schwingt,

dann fürchtet sie, erkannt zu werden

und herabzuschlagen, so man sie berührt.


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